Die Politikerflut in Dresden I

                                                   

"Als am Sonntag die Wahllokale in den anderen Wahlkreisen geschlossen wurden, haben wir uns noch nichts dabei gedacht. Bald wurde aber klar, dass das Ergebnis äußerst knapp ausgefallen ist, und dass unser Wahlkreis Dresden I die gesamte Bundestagswahl entscheiden würde. Und wir waren ja zwei Wochen später dran als alle anderen.

Erst einmal passierte nichts. Aber schon am frühen Montagmorgen waren alle Zufahrtsstraßen nach Dresden blockiert von den vielen Schwerlastwagen. Die Fuhrunternehmer brachten Wahlplakate aus allen Teilen der Republik zu uns, damit wir besser informiert wären und unsere Wahlentscheidung souveräner treffen könnten. Dass die Stadt bereits mit Plakaten zugepflastert war, störte sie nicht besonders. Sie fanden immer noch ein freies Stück Wand. Eine meiner Freundinnen konnte drei Stunden lang ihre Wohnung nicht verlassen, weil ein Wahlkampfteam der FDP ein Großplakat über ihre Haustür gedübelt hatte. Auf die Fenster nahm man schon gar keine Rücksicht: Die meisten Dresdner mussten in diesen schrecklichen zwei Wochen auf Tageslicht in ihren Wohnungen verzichten. Ich selber hatte mich auf dem Weg nach Hause verlaufen, weil ich die Straßen nicht mehr wiedererkannt habe.

Vom Montagabend an kamen dann die Politiker. Später zählte man, dass sie viel zahlreicher waren als die Dresdner Einwohner, ganz so wie im Winter die Skitouristen in einem Tiroler Bergdorf. Da wurden die Unterkünfte knapp, und vor den Hotels spielten sich groteske Szenen ab. Spitzenpolitiker aus ganz Deutschland balgten sich um die verbleibenden Betten, und die Parteizentralen boten den bereits gebuchten Touristen horrende Summen für einen Logierverzicht. Schließlich musste die Stadt mehrere Turnhallen als Notunterkünfte für die politische Klasse bereitstellen.

Mein erster persönlicher Wahlberater klingelte mich am Dienstagmorgen aus dem Bett. Es war Herr Schulz von der SPD. Er kam aus Berlin, hatte dort seinen Wahlkreis knapp gewonnen, und wollte jetzt in Dresden viel Gutes tun. Er würde mich jetzt zwei Wochen lang begleiten und mir Entscheidungshilfe bei meiner schwierigen Wahl am Sonntag geben. Auf dem Weg zur Arbeit - ich arbeite als Helferin in einer kleinen Zahnarztpraxis - trafen wir auf Herrn Wegner von der CDU. Wie sich herausstellte, kam er aus dem gleichen Berliner Wahlkreis wie Herr Schulz, war dort knapp unterlegen, und wollte jetzt alles wettmachen, indem er mir zwei Wochen lang wertvolle Hinweise zur Bundestagswahl geben würde. Beide hatten jetzt viel Zeit für mich und kamen mit in die Praxis.

Mein Chef, der Zahnarzt, staunte nicht schlecht, als ich in Begleitung der beiden Herren eintraf, aber schon nach wenigen Minuten stellten sich drei andere Politiker vor, die nun ihn in den kommenden Tagen beraten wollten. Erst versuchte er tapfer, sie zu ignorieren. Als er dann ins Wartezimmer sah, waren dort etwa 70 Menschen versammelt. Aber es waren nur zehn Patienten darunter, die anderen waren ihre gerade eingetroffenen Wahlberater der verschiedenen Parteien. Mit wütendem Kraftaufwand warf mein Chef alle persönlichen Politiker aus der Praxis heraus, aber es half alles nichts: Manche kletterten durch das Toilettenfenster wieder herein, andere klingelten an der Tür, klagten über plötzliche Zahnschmerzen und baten um eine Notbehandlung. Es wurde ein schrecklicher Tag, aber Herr Bahr von der FDP, der mich seit mittags ebenfalls bei meiner Entscheidung unterstützen wollte, sagte, das wäre gar nicht so schlimm, wenn nur eine liberale Regierungsbeteiligung sichergestellt werden könnte. Dann würde nämlich alles besser.

Zu sehr unschönen Szenen kam es dann in der Mittagspause, als sich auch noch Herr Staffelt, ebenfalls von der SPD und aus Berlin, bei mir vorstellen wollte. Herr Bahr und Herr Wegner protestierten erwartungsgemäß, aber auch Herr Schulz meinte, aus sozialdemokratischer Sicht wäre hier alles in besten, nämlich in seinen Händen. Da wurde Herr Staffelt handgreiflich und unterlag nach kurzem Kampf, nur am Sakko von Herrn Schulz fehlte fortan ein Ärmel, was ihm ein sehr verwegenes Aussehen gab.

Es wurde ein anstrengender Arbeitstag. Als wir endlich wieder zu Hause ankamen (was nicht einfach war, da Straßenschilder und Gebäude bis zur Unkenntlichkeit zuplakatiert waren), fanden wir vor meiner Haustür zwei Damen mittleren Alters vor, die sich gegenseitig an den Haaren zogen. Es stellte sich heraus, dass sie mir bei der Wahrnehmung meines Bürgerrechts am nächsten Wahlsonntag behilflich sein wollten, die eine von den Grünen, die andere von der PDS. So blut- und schlammverkrustet wie sie waren habe ich sie aber nicht in die Wohnung gelassen.

Der Abend mit den Vertretern der etablierten Parteien verlief erstaunlich harmonisch. Herr Schulz kochte, Herr Bahr wusch ab, und Herr Wegner wollte mir aus der Zeitung vorlesen. Nachdem ich sie später hinauskomplimentiert hatte, sank ich erschöpft ins Bett.

Da hatte ich aber die Rechnung ohne die Jungsozialisten gemacht. In kleinen Grüppchen tauchten sie mit ihren Wandergitarren unter den Fenstern auf, um den unentschlossenen Wählern Ständchen zu spielen. Im Chor sind sie schrecklich! Eine verzweifelte Nachbarsfamilie, die es nicht mehr ausgehalten hat, ist geschlossen in die SPD eingetreten, um fortan nicht mehr als wankelmütig zu gelten. Sie wurden dann auch tatsächlich in Ruhe gelassen, doch es half ihnen nichts, da die Junge Union auf dieselbe Idee kam und in der folgenden Nacht mit einem kernigen
"Schwarzbraun ist die Haselnuss" auf den Lippen unsere Straße heimsuchte. Als etwas später auch noch die Multi-Kulti-Sound-Systems der Grünen hinzukamen, war an Schlaf nicht mehr zu denken."


Im Wahlkreis Dresden I wird erst zwei Wochen später gewählt. Da dies durchaus die Wahl entscheiden kann, wird in dieser Zeit mit einer Vollversammlung der bundesdeutschen politischen Kaste in Elbflorenz gerechnet, eine Katastrophe, die die Elbflut vor drei Jahren deutlich in den Schatten stellen dürfte. Simplex empfängt telepathische Botschaften aus der nahen Zukunft.

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